Interview mit Zwi Nigal (leicht gekürzt) aus:
Flucht in die Freiheit. Österreichische Juden in Palästina und Israel.
Hrsg. von Angelika Hagen und Joanna Nittenberg.
Edition „Illustrierte Neue Welt“, Wien 2006.

(Mit freundlicher Genehmigung des Verlages)
Das Interview führte Angelika Hagen.

Zwi Nigal
Zwi Nigal wurde am 13. April 1923 als Hermann Heinz Engel in Wien geboren. Seine Mutter, Jeanette, geborene Hirsch, und sein Vater, Theodor Engel, wohnten mit ihrem Sohn und den beiden Halbschwestern Gerty und Elli in der Großen Stadtgutgasse in der Leopoldstadt. Hier besuchte er die Volksschule und anschließend das Gymnasium in der Zirkusgasse bis zur 5. Klasse. Im Juni 1938 wurde er von der Schule verwiesen. Er war Mitglied der „Hakoah“ und in der zionistischen Jugendbewegung „Barak“ unter der Führung Robert Strickers tätig. Im Jänner 1939 gelangte er mit einem Zug der „Jugend-Alijah“ nach Palästina, wo er in einem Dorf bei Bauern untergebracht wurde. Bei dem Versuch, Palästina zu erreichen, wurde seine Mutter deportiert und bis Kriegsende auf Mauritius gefangen gehalten. Sein Vater kam ins jüdische Ghetto in der Krummbaumgasse, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und, gemeinsam mit Dr. Stricker und Desider Friedmann, mit dem letzten Transport nach Auschwitz gebracht, wo er ermordet wurde. Zwi Nigal rückte an seinem 18. Geburtstag in die Britische Armee ein und diente in der Jüdischen Brigade in Nordafrika und Italien. Er kämpfte im Unabhängigkeitskrieg und half danach, die israelische Armee aufzubauen. Mit 47 Jahren verließ er die Armee und wurde Marketing-Direktor einer internationalen Firma.
Er ist mit Shifra Feffer verheiratet und beide haben zwei Söhne: Doron, geboren 1955, ist Klinischer Psychologe und Alon, geboren 1957, ist Hersteller orthopädischer Schuhe.

Sie sind am 13. April 1923 geboren, es ist unglaublich, dass Sie über 80 Jahre sein sollen!


Wahrscheinlich, weil ich viel mit Jugend zusammen bin.

Und Sie sind glücklich?

Ja. Obwohl ich nicht mit allem einverstanden bin, auch Sorgen habe, wenn die Enkelkinder in der Armee sind….

Gehen wir zurück zu der Zeit als Sie in Wien aufwuchsen: Wo haben Sie damals gewohnt? Wer war Ihre Familie, wer waren Ihre Freunde?

Wir haben im 2. Bezirk in der Große Stadtgutgasse 34, 2. Stiege, 3. Stock gewohnt. Mein Name war damals Hermann Heinz Engel. Hermann, nach dem Lieblingsbruder meiner Mutter. Mein Vater war Theodor Engel, er stammte aus Mähren, geboren 1876. Meine Mutter hieß Jeanette, geborene Hirsch, sie hatte drei Tage nach mir Geburtstag, ist am 16.4. 1886 in Andrichau, dem heutigen Andrychow, geboren, das ist in Westgalizien, ganz in der Nähe von Wadowice, dem Geburtsort des verstorbenen Papstes. Sie war gelernte Krankenschwester und als solche lange im Ersten Weltkrieg tätig. Mein Vater war Inspektor bei den Bundesbahnen. Sie haben relativ spät geheiratet. Ich hatte keine direkten Geschwister, allerdings Halbschwestern, Gerty und Elli, die viel älter waren als ich, und die in Südamerika lebten.

Die Volksschule besuchte ich in der Holzhausergasse, die gibt es bis heute. In die Mittelschule bin ich in die G 2 in der Zirkusgasse gegangen. Bis zur 5. Gymnasialklasse. Dann habe ich zwei Mitteilungen erhalten. Die eine war: ,,Laut Ihrem Zeugnis sind Sie berechtigt, aufzusteigen.“ Die andere: „Als Jude können Sie das Gymnasium nicht weiter besuchen“. Das war im Juni 1938.

Bis zu diesem Zeitpunkt: Welcher Art sind Ihre Erinnerungen an Ihre Jugendzeit und an die Freunde in Wien?

Meine Jugend in Wien war sehr schön, bis Hitler kam. Obwohl ich Zionist war, habe ich mich sehr mit Österreich identifiziert, nicht weniger als alle anderen.
In der Schule war man korrekt. Ich war ziemlich populär, spielte im Handballteam; zu den nichtjüdischen Schülern war man freundlich; aber ich habe nie einen nichtjüdischen Freund gehabt. Meinen jüdischen Freundeskreis habe ich gehabt. Das war bei meinen Eltern auch so. Wir haben einen weiten jüdischen Freundeskreis gehabt. Auch die Arbeitsbeziehungen meines Vaters waren korrekt, aber nichtjüdische Freunde, daran hätte man nie gedacht.
Doch — eine Nichtjüdin hat es gegeben: Elfriede Sturm, später Hofrat DDr. Elfriede Sturm (gestorben am 11.3.2006, Anm. d. Hg.). Sie ist Sekretärin des Freundschaftsverbandes Österreich-Israel. Wir waren damals nur Buben im Gymnasium, gegenüber war eine Mädchenschule; sie hat dort gelernt. Sie war die Einzige.

Hatte das etwas mit religiöser Einstellung zu tun? War Ihre Familie religiös?

Nicht direkt. Meine Familie war in Bezug auf Religion entschieden traditionell, aber nicht streng religiös. Ich bin am Freitagabend zum Jugendgottesdienst gegangen. Zuhause haben wir koscher gegessen; aber wenn wir, wie jedes Jahr im Winter, nach Tirol zum Skifahren gegangen sind, haben wir das außer Acht gelassen. Was jedoch immer da war und da ist: das Bewusstsein, dass man Jude ist, dass es einen Gott gibt, und dass man ein paar Sachen zu beachten hat. Eigentlich bin ich bis heute in Bezug auf die Religion „traditionell“. Ich gehe zwar selten in die Synagoge, aber ich sage jeden Freitagabend den Segensspruch über den Wein, weil es mein Vater so gemacht hat.
Die anderen waren einfach anders. Es stellte sich nicht einmal die Frage, etwas mehr als die korrekten Beziehungen zueinander zu haben.

Sie sagten, Sie waren Zionist. In welchem Verein oder auch Sportverein waren Sie?

Ich war in der Hakoah und ich war im Barak, das war eine rechte Jugendbewegung, nahe dem Betar; die Partei von Jabotinsky hat die jüdische Organisation verlassen. Dort war ich sehr aktiv. Der Führer unserer Bewegung war Dr. Robert Stricker, er war auch der einzige jüdische Landtagsabgeordnete in Wien in den zwanziger Jahren. Hier in Tel Aviv gibt es eine Straße mit seinem Namen. Mein Vater war ebenfalls aktiv und 1939 beim letzten Zionistenkongress in Genf. Die jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt wählten ihre Delegierten. In Wien konnte man damals keine Wahlen mehr durchführen. Der Zionistenkongress war Ende August 1939. Da hat Eichmann sich einverstanden erklärt, elf Delegierte zu schicken. Vater ist also gefahren und als er dort war, ist der Krieg ausgebrochen. Er ist trotzdem zurückgekommen, weil er meine Mutter nicht verlassen wollte.
Ich war zu dieser Zeit schon in Palästina. Im Jänner 1939 bin ich mit einem Zug der Jugend-Alijah dorthin gebracht worden. Wir waren eine Gruppe von 70 Jungen und Mädchen aus Wien, 15 bis 17 Jahre alt, die Einwanderungsbewilligungen nach Palästina erhalten hatten. Dort wurden wir für zwei Jahre in einem Dorf (Kfar Vitkin) bei Bauern untergebracht und eigentlich regelrecht in deren Familien aufgenommen. Die eine Hälfte des Tages lernten wir, die andere Hälfte arbeiteten wir in der Landwirtschaft.

War das immer klar, dass Sie nach Palästina gehen? Haben Sie nie daran gedacht, beispielsweise zu Ihren Halbschwestern nach Uruguay zu gehen?

Die hätten sich auch gefreut. Aber mein Vater hat gesagt: „Nein, Du gehst nach Palästina“, und ich war damit einverstanden. Er sagte immer, er habe schon zwei Kinder durch das Judentum verloren. Eine seiner Töchter, Gerty, hat einen Nichtjuden geheiratet, das war der Sohn von Zoltan Szomogyi, Herausgeber der kommunistischen Zeitung in Ungarn in den zwanziger Jahren, der unter Horthy ermordet wurde; sein Sohn floh nach Wien, lernte dort meine Schwester kennen, sie heirateten und wanderten dann nach Südamerika aus.
Elli, meine andere Halbschwester, heiratete einen Juden und ist - das war tragisch - bei einem Autounfall auf der Hochzeitsreise umgekommen. Gerty ist mittlerweile auch gestorben.

Gehen wir nochmals zurück nach Wien. Wie haben Sie den „Anschluss“ erlebt? Wie verhielten sich Ihre Kollegen, Lehrer, Bekannte?

Wir hatten einen Deutschprofessor, er war ein hervorragender Lehrer. Im Deutschen Volkstheater gab es ein Schauspiel: "Matura"*. Der Hauptdarsteller hieß Edthofer und es war, als ob unser Deutschprofessor ihm als Vorbild gedient hätte. Genauso war er. Korrekt und distanziert zu uns. In Deutsch war ich gut ... Der Professor hatte das Goldene Parteiabzeichen, das heißt, dass er schon zehn Jahre illegal in der Partei war — aber er war weiterhin korrekt. Die besten Schularbeiten hat er immer vorgelesen. Ich hatte anscheinend einen guten Aufsatz geschrieben, denn er las ihn vor. Danach hat er das Heft zugeschlagen und gesagt: „Das Tragische an der Sache ist, dass wieder ein deutschfremdes Element die beste Arbeit geschrieben hat!“ Wir hatten einen deutschen Direktor, der war auch korrekt. Der sagte: ,,Euer Status hat sich grundlegend geändert, Ihr seid nicht mehr Staatsbürger, Ihr seid Reichsangehörige, Eure Zukunft ist nicht hier, ich kann Euch nur raten: lernt, denn Ihr werdet es brauchen!“ Nach einiger Zeit wurden dann alle jüdischen Schüler auf drei, vier Schulen aufgeteilt, bis Ende des Jahres.
Die Atmosphäre in Wien war insgesamt extrem feindlich. Die Kleinigkeiten sind nicht so wichtig gewesen — das Mädchen, das gegenüber gewohnt hat, mit der ich sehr gut war — sie hat mich nicht mehr gekannt; einmal hat man mich abgefangen, um das Parteilokal zu putzen; dass ich denen weggelaufen bin, ist eine andere Sache. Mein Vater ist in Auschwitz umgekommen.

Was geschah, als er damals aus Genf nach Wien zurückkam?

Ich war damals schon in Palästina und die Eltern sollten nachkommen. Die Absicht war ursprünglich, dass mein Vater nach dem Kongress in der Schweiz bleiben sollte. Aber kurz davor ist die Gestapo bei der Mutter erschienen (wir hatten damals schon nur mehr ein Zimmer, die Wohnung hatten sie weggenommen, noch bevor ich nach Palästina fuhr); sie haben meiner Mutter den Pass abgenommen. Als Vater dann zu ihr nach Wien zurückkam, hat man ihr den Pass zurückgegeben. Er konnte sie auf ein illegales Schiff bringen. Sie kam dann zwar in Palästina an, doch das Schiff — die Patria — sank im Hafen von Haifa, ungefähr 250 illegale Einwanderer aus Danzig, der Tschechoslowakei und Österreich kamen ums Leben. Die Überlebenden wurden von den Engländern nach Mauritius deportiert und blieben dort bis zum Kriegsende interniert. Viele starben an Typhus. Meine Mutter überlebte.
Sie kam nach fünf Jahren der Gefangenschaft auf Mauritius endgültig nach Palästina.
Meinen Vater ließen sie nicht fort. Er kam ins jüdische Ghetto in der Krummbaumgasse. Dort blieb er bis 1942, dann wurde er nach Theresienstadt deportiert und mit dem letzten Transport im Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht, gemeinsam mit Dr. Stricker und Präsident Friedmann.
Niemand glaubte an das Schlimmste, ich dachte immer, die Trennung wäre nur zeitweilig und wir würden die Eltern wieder treffen. Wir waren zu jung. Ich erinnere mich, wie wir am Bahnhof in Wien getanzt haben, bevor wir wegfuhren.

Wie ist es Ihnen in Palästina ergangen?

Ich war lange in der Britischen Armee, an meinem 18. Geburtstag bin ich eingerückt. Ich war in der Jüdischen Brigade und habe hier, in Nordafrika und in Italien gedient. In Italien waren wir an der Front, ich stand einem österreichischen Jägerregiment am Senio gegenüber. Ich wurde dort bei Imola verwundet, nicht schwer, und kam ins 2nd New Zealand Field Hospital. Wir beendeten den Krieg eigentlich in diesem Dreieck in Nordostitalien, zwischen den Grenzen Österreichs und dem heutigen Slowenien.

Sie waren ganz nah bei Österreich? Hatten Sie mit Österreichern Kontakt?

Ja. Ich kam bis Judenburg. Ich wollte damals schon nach Wien, aber ich bekam keinen Urlaub. Ich wollte sehen, ob ich jemanden finde, das war 1945. Ich begann zu ahnen, aber ich wusste es nicht. Meine Brigade wurde nach Holland versetzt. Von dort aus fuhr ich dann im April 1946 nach Wien, in britischer Uniform.
Die Lage in Wien war nicht sehr erfreulich, alles war ziemlich zerstört, besonders in der Gegend, in der wir gewohnt hatten, beim Nordbahnhof. Ich war in der Schule, erkundigte mich, es gab noch zwei der Professoren; ich ging in unser Haus. Das war eigenartig: das Haus war ganz geblieben, nur unsere Wohnung, es war eine Eckwohnung, war von einer Granate weggerissen. Inzwischen hat man das ausgebessert und noch einen Stock dazu gebaut. Das hab ich gesehen, als ich das letzte Mal in Wien war.
Ich war bei der Polizei. Dort hat man mir den Akt von der Deportation meines Vaters gezeigt. Dort stand: „… bekam ich den Auftrag, den Juden Theodor Israel Engel zu informieren, dass er am nächsten Tag 9 Uhr bereit zu sein hat ... Ich kam um 9 Uhr hin und er war bereit ... Er hatte 23 Mark Bargeld bei sich und den Ehering …“ Den Ring bekam ich, der war noch bei der Polizei. Die englische Uniform hat gewirkt.
Dann war ich bei den Bundesbahnen und sah, dass er 1.000 Mark Strafe hat zahlen müssen, als ich das Land verlassen hatte, und er es nicht mitgeteilt hatte.
Ich war in der Postsparkasse und sah die Auszüge seiner Pension bis zum Zeitpunkt, als er deportiert wurde. Das Konto war aufgelassen worden. Ich bekam den letzten Kontoauszug, sah, wie viel Geld übrig geblieben war, was beschlagnahmt wurde, was an das Konto „Aussiedlung“ übergeben wurde.
Und ich hatte jetzt Gewissheit darüber, was mit meinem Vater geschehen war.
Meine Mutter war inzwischen auch in Palästina angekommen. Ich konnte sie einmal besuchen und als mich dann die Armee entlassen hatte, Ende 1946, kam ich endgültig nach Palästina zurück.

Sie waren jetzt mit Ihrer Mutter zusammen: Wie konnten Sie sich in die neue Situation einfinden?
Ich konnte schon etwas Hebräisch, weil unsere Familie zionistisch war, und hier lernte ich es dann perfekt. Aber wir hatten nichts und ich suchte mir ganz gezielt aus, wo man am meisten verdient. Das war damals als Lastenträger im Hafen von Haifa. Damals gab es keine Kräne und ich schleppte also Hundert-Kilo-Säcke auf die Schiffe hinauf; ich hab auf diese Weise viermal mehr verdient als ein Beamter. Und ich brauchte das Geld. Zusätzlich arbeitete ich auch am Bau. Dann kam der Geheimdienst, die Hagana, zu mir und wollte, dass ich in der Post in Haifa für sie arbeite. Eigentlich ließen sie dort keine Juden rein, aber die Hagana meinte: Du bist nach fünf Jahren in der Britischen Armee ausgebildeter Telegrafist, da werden sie nicht Nein sagen. Und so war es, Ich habe dort viel weniger verdient, aber die Hagana hat ein bisschen etwas dazugegeben. Dort habe ich eineinhalb Jahre gearbeitet. Ich habe heimlich Kopien des Schriftverkehrs gemacht, das war nicht leicht, wenn einem ein Sicherheitsbeamter die ganze Zeit über die Schulter schaut. Das ging bis Anfang 1948. Dann hat man meine Truppe mobilisiert, ohne mich dazu zu nehmen; sie haben darauf bestanden, dass ich in der Post bleiben sollte. Meine Truppe — 12 Mann — war eingesetzt eine Kolonne zu begleiten, die in einen Kibbuz fuhr. Die Kolonne geriet in einen arabischen Hinterhalt, von 11 wurden 7 getötet. Das waren alles meine Nachbarn, Und ich sah in den Blicken der Angehörigen: Was machst du da? — So ging ich fort, weg von der Post und weg von zu Hause, zu einer Brigade, die weit oben in den Bergen um ihr Leben kämpfte, und die noch nicht organisiert war und noch keine Uniform hatte. Die fragten nicht, woher ich komme und waren froh, mich zu nehmen. Dann blieb ich lange in der Armee.

Wie ist das weiter gegangen? Auch mit Beruf und Familienleben?

Der Krieg war 1949 zu Ende; dann wurde ich aus dem Untergrund einberufen, um die offizielle Armee mit aufzubauen. Sie schickten mich an eine französische Militärschule, hundert Kilometer südlich von Paris, dort lernte ich ein Jahr Fernmeldetechnik. Vorher hatte ich noch geheiratet eine Sabra, Shifra, geborene Feffer. Sie war hier im Land geboren. Mir war immer klar gewesen, dass ich eine Sabra heiraten würde. Sie war noch Soldatin, als wir geheiratet haben. Wenn heute eine Soldatin heiratet, verlässt sie die Armee. Sie musste damals ausdienen. Ich war ein halbes Jahr allein, dann kam sie nach. Als wir zurückkamen, stieg ich im Rang auf und wurde Major. Wegen des Ausbildungsjahres in Frankreich hatte ich mich verpflichten müssen, noch ein Jahr weiter zu dienen. Als ich dann schließlich weg konnte, war die Situation gespannt; es ging auf den 56-er Krieg zu, ich wollte die Armee verlassen. Aber man bot mir an, vier Jahre an der Technischen Hochschule studieren zu dürfen, wenn ich mich verpflichte, zu bleiben, Dem konnte ich nicht widerstehen; ich machte ganz schnell die Matura nach. In Haifa studierte ich vier Jahre Elektrotechnik. Dann kam ich zurück und musste natürlich weiter dienen, etwa sieben Jahre. Schließlich verließ ich die Armee als Oberstleutnant, damals war ich noch jung, 47 Jahre. Ich ging in die Industrie und arbeitete in einer ziemlich großen Firma, Tadiran, im internationalen Marketing. Ich war dort Direktor in der International Marketing Division. Ich hatte schöne Aufgaben. Anfangs war ich für den Nahen Osten verantwortlich, dann für Afrika, schließlich für Europa. Ich leitete das Büro zweieinhalb Jahre von Bonn aus.

Und wie hat sich Ihr Familienleben entwickelt?

Shifra und ich haben zwei Söhne: Doron ist 1955 geboren, er arbeitet als Klinischer Psychologe; Alon ist zwei Jahre später geboren und Hersteller von orthopädischen Schuhen. Alon kann sogar ein wenig Deutsch; er hatte ein Stipendium für die orthopädische Meisterschule in München bekommen.

Wie ist das überhaupt mit der Sprache Deutsch?

Meine Frau spricht gut Deutsch, sie hat es am Goethe-Institut gelernt, aber wir sprechen Hebräisch miteinander. Sie macht mich immer darauf aufmerksam, wie anders ich mich ausdrücke, wenn ich mit Österreichern oder Deutschen zusammen bin; sie sagt, ich spreche dann so „ohne weiteres“.
Nachdem ich in den Ruhestand getreten bin, habe ich als Guide gearbeitet und viele deutsche Gruppen geführt. Ich habe dafür auch die entsprechenden Staatsprüfungen abgelegt und darf somit englische, französische, deutsche und hebräische Gruppen führen. Wenn ich es mir aber aussuchen kann, bevorzuge ich immer deutschsprachige Gruppen. Ich fühle mich im Deutschen viel freier und bin dann auch viel besser.

Kennen Ihre Kinder und Enkelkinder Ihre Geschichte und haben Sie selbst einen Bezug zu Österreich?

Die älteren schon. Es gibt in der Schule außerdem ein Projekt, das nennt sich „Meine Familie“. Eine meiner Enkeltöchter war mit der Schule auch in Auschwitz. Vor ihrer Reise bin ich mit ihr gesessen und musste erzählen. Sie haben hier in Israel eine andere Methode des Geschichtsunterrichts als wir damals in Österreich. Die Schüler lernen hier, wie man Geschichte „liest“. Dazu greift man einen kleinen Abschnitt heraus und vertieft ihn im Detail, anstatt einen flüchtigen Überblick über alle Perioden zu vermitteln. Zufällig war der gewählte Abschnitt Österreichs Geschichte zwischen den beiden Weltkriegen. Ich habe ihr ganze Abende von Dollfuß und Schuschnigg erzählt. Es scheint gut zu sein, so zu lernen. Sie lernt, wie man Geschichte liest.

Sie selbst hatten in Wien in Ihrer Gymnasialzeit eine humanistische Bildung erhalten. Wie denken Sie heute darüber? Was ist von Wien geblieben?

Meine Bildung in Wien hat mir so viel gebracht, dass ich in der Zeit, als ich auf der Technischen Hochschule war und mir die Spezialgleichungen schwierig und mühsam durch den Kopf gingen und ich sozusagen Blut schwitzte, nebenbei in Vorlesungen über Geschichte und Militärgeschichte ging, sozusagen zum angenehmen Ausgleich. Das lernte ich mit Leichtigkeit, denn ich hatte in Wien fünf Jahre Latein und drei Jahre Altgriechisch. Ich machte diese Prüfungen so zum Spaß. Und so habe ich damals auch noch einen Abschluss in Geschichte gemacht.
Ich habe in Wien, wie jedes Kind einer Mittelstandsfamilie, Klavier gelernt. Ich liebe die klassische Musik. Ich habe noch immer gern die Bilder von Waldmüller. Und ich kann viel auswendig aus König Ottokars Glück und Ende von Franz Grillparzer. Ich lese leichter in Deutsch als in Hebräisch. Ich korrespondiere viel, mit Freunden in Wien und in Deutschland.

Was haben Sie gewonnen durch Ihre neue Heimat?

Für meinen Vater war schon sehr früh klar, dass wir in Wien keine Zukunft haben, dass Palästina unsere neue Heimat sein solle. So war es. Ich habe mich hier ziemlich leicht integriert, weil ich jung war und diesen zionistischen Hintergrund hatte. Aber auch meine Mutter hat sich wunderbar eingefügt. Sie war eine sehr starke Frau, ist hundert Jahre alt geworden, hat einen Obstgarten gehabt, gearbeitet und bis zuletzt alleine gelebt.
Durch meine Ausbildungen habe ich gut verdient und bin viel herumgekommen. Insgesamt ist es ein gutes Leben.

Sie haben sozusagen eine gute kulturelle Beziehung zu Österreich: Wie ist Ihre politische Sichtweise auf Österreich und wie Ihre Gefühle heute, in Bezug auf das, was Ihnen und Ihrer Familie damals widerfahren ist?

Manchmal ist es heute noch so: Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Hakenkreuzfahnen vor mir. Wenn ich beruflich in Wien war, habe ich meistens im Hilton gewohnt; dann bin ich durch den Stadtpark gegangen und habe im Geist die Schilder gesehen: „Juden unerwünscht“. In Deutschland bin ich weniger befangen als in Österreich.
Das erste Mal war ich 1946 in Wien, danach nicht mehr bis 1958. Später wieder öfters und jetzt bin ich gerne in Wien. Ich mag das Wiener Essen, gehe gern zum Weißen Rauchfangkehrer, sehe gerne Theaterstücke; aber auch von hier aus halte ich Verbindungen und bin ganz gut mit dem österreichischen Hospiz in Jerusalem. Aber ich hätte nie mehr in Wien leben wollen als österreichischer Staatsbürger.

Haben Ihre Söhne oder Enkel um die österreichische Staatsbürgerschaft angesucht?

Früher haben wir nie daran gedacht. Aber inzwischen haben meine Söhne und Enkelkinder die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Einer meiner Enkel würde gerne in Wien studieren. Ich selbst habe schon lange die Doppelstaatsbürgerschaft. Ich habe sie gebraucht, weil ich mich in Afrika an Plätzen herumgetrieben habe, wo es besser war, einen österreichischen Pass zu haben. Und jetzt nehme ich zum Beispiel an den Wahlen teil; allerdings mit einem nicht ganz reinen Gewissen, denn welches Recht habe ich, den Österreichern zu sagen, wen sie wählen sollen?

(…..)

Was ist eigentlich aus dem Konto Ihres Vaters geworden?

Gut, dass Sie mich erinnern, denn das wollte ich noch erzählen. Ich erhielt irgendwann einen Brief von der Bank Austria, mit der Frage, ob ich Forderungen habe. Ich schrieb der Bank, teilte ihnen den Namen meines Vaters mit, dass er ein Konto auf der Postsparkasse hatte und dass dorthin auch immer seine Pension überwiesen worden sei. Ich schrieb nicht, dass ich den letzten Kontoauszug davon habe. Sie schrieben zurück, die Historikerkommission habe keine Spuren gefunden und sie böten mir für meine Ausgaben, die ich gehabt hätte, 100 DM an. Ich schrieb zurück, ich bedanke mich und schätze ihr Angebot, doch zufälligerweise hätte ich einen Kontoauszug gefunden und ich gab ihnen die Kontonummer bekannt. Es kam ein weiterer Brief, es tue ihnen leid, aber sie hätten trotzdem nichts gefunden.

Haben Sie das dann auf sich beruhen lassen?

Ich habe einen Antrag an die Claims Conference gestellt und erhielt die Mitteilung, dass meine Klage anerkannt würde und ich eine Überweisung von 5.000 Dollar erhalte.

*) „Matura“‚ Komödie in drei Akten von Ladislaus Fodor, Premiere: 22. 12, 1936 im Theater in der Josefstadt, Regie: Albert Heine; mit Anton Edthofer, Hans Thimig, Adrienne Geßner, Hilde Krahl, Karl Paryla, u. a. (Anm. d. Hg.)

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